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Einleitung
> Früheste Nachrichten
> Das St. Emmanuels Gut und
seine Bewohner im
17. und 18. Jahrhundert
> Vereinödung
> Die Veränderungen im 19. Jahrhundert
> Im Besitz der Familie Gührer
> Wirtschaftlicher Aufschwung
> Der Neubau von 1904
Zunächst scheint das
Anwesen Gührer in Schleinsee gar nicht so recht in unsere landläufige
Vor-stellung von einem richtigen Bauernhof zu passen. Dass hier
tatsächlich Landwirtschaft betrieben wird, wissen natürlich viele
Ortskundige. Stellt man das stattliche Wohnhaus der Hofanlage
aller-dings Fremden vor, so reagieren sie meist mit Staunen und der
ungläubigen Frage „das soll ein Bauernhaus sein?“
Unbegründet ist diese Reaktion
sicher nicht. Das Wohnhaus erinnert in seinem äußeren Erschein-ungsbild
eher an jene Art der Villenarchitektur, wie man sie am Rande oder in den
Vororten der größeren Städte – häufig versteckt in ausgedehnten
Parkanlagen – findet. Solche Villen stammen meist aus dem letzten
Drittel des 19. und den Anfängen des 20. Jahrhunderts und werden
stilge-schichtlich der historischen Architektur zugeordnet. An diesen
Vorbildern scheint sich Anton Gührer, der damalige Besitzer, beim Bau
seines neuen Hauses im Jahr 1904 orientiert zu haben. Auch das
Haus Gührer kann also
1984 ein Jubiläum feiern!
Mit seinen 80 Jahren gehört das Haus aber weder zu den älteren oder
ältesten Bauernhäusern der Gemeinde Kreßbronn, noch handelt es sich um
einen typischen Vertreter der hierzulande üblichen Form des
Bauernhauses. Im ganzen Bodensee-kreis findet man höchstens noch ein
oder zwei Beispiele, die in ihrer baulichen Gestalt dem Haus Gührer
ähneln. Am nächsten kommt ihm ein Bauernhaus in Herrgottsweiler bei
Tettnang aus dem Jahr 1907.Mit einem Bauernhof ganz besonderer Prägung
haben wir es also hier zu tun, der zweifellos durch
seine eigenwillige Gestalt einen nicht
unwesentlichen Anteil an der schon in der Oberamts-beschreibung von 1915
gerühmten Idyllik des Schleinsees hat. Umso spannender und aufschlussreicher
verspricht ein Ausflug in die Geschichte von Haus und Hof zu werden.
Die heute vorhandenen Gebäulichkeiten
des Gutes stammen zwar überwiegend aus dem Anfang dieses Jahrhunderts,
dennoch ist es als Bauernhof und Siedlungsplatz viele Jahrhunderte
nach-weisbar.
Die erhaltenen Urkunden und Quellen sprechen zwar erst im 15. Jahrhundert
von 2 Bauern-höfen am Schleinsee. Dennoch kann man davon ausgehen, dass
schon bei der ersten Erwähnung des Schleinsees am Ende des 13. Jahrhunderts
auch seine Ufer besiedelt waren.
Ursprünglich war Schleinsee wohl Bestandteil der Herrschaft Summerau und
ging mit dieser 1331 in den Besitz der Grafen von Montfort über. Die beiden
Schleinseer Höfe werden daher im 16. Jahr-hundert als montfortische Lehen
geführt.
Genaueres erfahren wir über die Besitzer
des heutigen Gührerhofes erst aus der Zeit nach dem 30jährigen Krieg. Wohl
seit 1648 bewirtschafteten Georg Gebhard aus Riedensweiler und Barbara
Bergerin aus Hitzenweiler den Hof. Ihnen folgte 1680 ihr Sohn Adam Gebhard,
der in erster Ehe mit Barbara Heimpel und seit 1701 mit Ursula Sutterin von
Langensee ver-heiratet war. Im Jahr 1711 hat dann die Tochter Katharina
Gebhard mit ihrem Ehemann Johann Günthör aus Betznau den Hof übernommen.
Nachdem seine Ehefrau 1720 verstorben war, heiratete er noch im selben Jahr
Maria Günther.
Zwei Jahre später, also 1722 finden wir in einem Güterbuch der Gemeinde
Missenhardt (1824 in Gemeinde Tannau umbenannt), die zum montfortischen
Landwaibelamt gehörte, eine genaue Beschreibung des Hofes. Der Gührerhof
wurde damals als St. Emmanuels-Gut geführt und war ein montfortischer
Erblehenhof, d.h. die Vererbung innerhalb der Familie wurde von
herrschaftlicher Seite aus zugesichert. Die Bewohner des Hofes, Hans Günthör
und seine Frau Maria Günther mit ihren Kindern Adam, Anna und Philipp, waren
Leibeigene der Grafen von Montfort. Zum Hof gehörten ein Haus, ein Stadel,
ein Speicher und eine Ofenkuchel. Sie standen auf der sog. Hofreithe und
waren von einem Baum- und Krautgarten umgeben. Die Wirtschaftsfläche
umfasste etwa 10 Hektar Ackerland, 4 Hektar Wiesen, ebensoviel Wald und eine
stattliche Anzahl von Rebgärten. Entsprech-end der feudalen
Gesellschaftsordnung war Hans Günthör nicht Eigentümer des von ihm
bewirt-schafteten Grund und Bodens. Vielmehr war er ihm vom betreffenden
Eigentümer, nämlich dem Grafen von Montfort, nur gegen entsprechende Abgaben
und Gebühren ver-liehen worden („Lehen“). Hans Günthör musste jährlich eine
bestimmte Menge Hafer, Hühner und Eier sowie als Zehnten den 10. Teil des
Ertrages nach Tettnang abliefern. Als Leibeigener musste er Frondienste
verrichten und zwar jährlich 2 Fuhren Dung in die herrschaftlichen
Rebgärten. Darüber hinaus hatte er der Herrschaft eine bestimmte Summe
Steuern und Grundzinsen zu zahlen. Alles in Allem wird sich der Umfang
dieser Leistungen auf etwa ein Drittel des Gesamtertrages seines Hofes
belaufen haben.
Wie die Zusammensetzung der landwirtschaftlichen Nutzfläche zeigt, stand der
Ackerbau damals im Vordergrund. Allerdings war der Weinbau eine weitere,
wichtige Einkommens-quelle. Die Schleinseer Gemarkung war ein altes
Weinbaugebiet. So werden hier schon im 15. Jahrhundert Rebgärten erwähnt.
Während die Viehzucht im Allgemeinen eine untergeordnete Rolle spielte, kam
in Weinbaugebieten dem Vieh eine größere Bedeutung als Dunglieferant für die
Rebgärten zu. Daher war auch der Anteil der Wiesenflächen mit etwas weniger
als der Hälfte der Ackerfläche beim St. Emmanuels Gut vergleichsweise stark
vertreten.
Im Jahr 1720 hat sich offenbar auch Hans Günthör ein neues Haus gebaut. Bei
der Gestaltung dieses Hauses hat sich Günthör allerdings nicht an die bei
uns übliche Form des Bauernhauses mit Wohnteil, Stall und Tenne unter einem
Dach gehalten. Vielmehr sollte die Hofanlage nun aus einem reinen Wohnhaus
und einer davon getrennt stehenden Scheuer mit 2 Ställen, Tenne und
Wagen-schopf bestehen. Auch ein Backhaus durfte nicht fehlen. Wie es sich
für einen Hof, auf dem Weinbau betrieben wurde, gehörte, hatte das Wohnhaus
einen großen, ge-wölbten Keller. Im Wohngeschoß darüber lagen eine Stube,
die Küche und 2 Stuben-kammern. Unter dem Dach bot sich Platz für 2 oder 3
Schlafkammern. Das Haus hatte einen massiven Sockel, die Umfassungswände
bestanden aus Fachwerk, waren aber mit Brettern verschlagen. Das Dach wurde
wohl mit Schindeln gedeckt. Bei Fachleuten werden solche Bauernhöfe, bei
denen Wohn- und Wirtschaftsgebäude getrennt standen, als sog.
„südoberschwäbische Hofanlagen“ bezeichnet. Während diese Form im
Ravens-burger Raum sehr verbreitet war, stellte sie in unserer Gegend die
Ausnahme dar. Für bauliche und architektonische Besonderheiten scheint man
also auf dem heutigen Gührerhof schon immer etwas übrig gehabt zu haben.
In den 60er Jahren des 18. Jahrhundert
hat Adam Günthör den Hof von seinem Vater über-nommen. Seine Ehefrau
Francisca Hotz aus Betznau heiratete nach dem Tod ihres ersten Mannes 1772
in zweiter Ehe Gebhard Schmid aus Atlashofen. Während Gebhard Schmid dem Hof
vorstand, vollzog sich eine wichtige Veränderung hinsichtlich seiner
Bewirt-schaftungsweise. Im Jahr 1778 nämlich wurde Schleinsee zusammen mit
den Orten Wielandsweiler und Busenhaus vereinödet. Unter Vereinödung
versteht man eine Art der Flurbereinigung, die vom Allgäu ausgehend seit den
70er Jahren des 18.Jahrhunderts auch bei uns Fuß fasste.
Die Bewirtschaftung des Bodens erfolgte traditionellerweise in der sog.
Dreifelderwirtschaft, d. h. sämtliche Ackerflächen waren auf 3 Ösche
verteilt und wurden in dreijährigem Wechsel jeweils mit Winter- oder
Sommerfrucht bebaut, ein Jahr lag die Ösch brach. In der Regel hatte diese
Flurver-fassung zu einer starken Zersplitterung der bebauten Parzellen
geführt, sodass ein Hofinhaber in jeder Ösch über eine Vielzahl verstreut
liegender Einzelgrundstücke verfügte (Gemengelage). Unter solchen Umständen
waren die Gemeinden gezwungen, strenge und für alle Gemeindemitglieder
verbindliche Regeln der Bewirtschaftung zu fixieren(Flurzwang). Konkret
wurde dabei festgelegt, wann, wo, wer und mit welchen Arbeiten zu beginnen,
bzw. aufzuhören hatte. Die gemeinsame Regelung der land-wirtschaftlichen
Arbeit war der wichtigste Bereich kommunaler Selbstverwaltung in den
Gemeinden bevor sie Anfang des 19. Jahrhunderts ihre Autonomie erlangen.
Im Zuge der Vereinödung versuchte man nun, den bislang zerstreut liegenden
Grundbesitz jedes Hofes durch Gütertausch sowie als möglich zu arrondieren.
Dazu wurden sämtliche Parzellen zusammengelegt, geschätzt und dann
anteilsmäßig und soweit als möglich „in einem Stück“ wieder an die
Hofinhaber ausgegeben. In der Regel ging der Anstoß zu dieser Maßnahme von
den betroff-enen Bauern aus, so auch im Falle der Orte Schleinsee,
Wielandsweiler und Busenhaus, wobei hier eine Feuersbrunst, die praktisch
den gesamten Ort Wielandsweiler zerstört hatte, den letzen Anstoß gab. Denn
nicht selten wurde mit der Arrondierung auch ein Ausbau einzelne Höfe
notwendig, d. h. es gelang nicht in jedem Fall die Güter so nahe als möglich
beim Haus zu konzentrieren, weshalb solche Höfe an ihrem alten Standort
abgebrochen und am Rande der Gemarkung draußen bei ihren Feldern wieder
aufgebaut werden mussten.
Zweifellos war die Vereinödung der
früheste und einer der wichtigsten Schritte auf jenem Weg, der über die
allmählichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts zu unseren modernen,
landwirtschaft-lichen Betriebsformen führte. Jetzt konnte der Flurzwang
entfallen, waren die Voraussetzungen geschaffen für eine individuelle, dem
eigenen Gutdünken entsprechende, eigenverantwortliche und innovatorische
Bewirtschaftung. Konsequenterweise zeichneten sich in dieser Zeit auch die
ersten Verschiebungen in den Anbauformen ab: der Kartoffelanbau verbreitete
die bis dahin oft knappen Nahrungsmittelreserven an Getreide, der Kleeanbau
ermöglichte die Stallfütterung des Viehs, dessen im Stall gewonnener Dung
dann wieder zu Ertragssteigerungen im Ackerbau eingesetzt werden konnte.
Nicht zuletzt begann sich nun ganz allmählich das Schwergewicht vom
Getreidean-bau und Viehwirtschaft zu ver-lagern. Hand in Hand ging damit
eine Ausweitung der Gras- und Futteranbauflächen einher. Im weiteren Verlauf
gewannen dann die Sonderkulturen, zunächst der Obstbau, später der Hopfenbau
zunehmend an Bedeutung.
Auch der Hof von Gebhard Schmid wurde
also 1778 vereinödet, d. h. arrondiert. Wie wichtig dieser Schritt für die
weitere Entwicklung des Hofes war, wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass
noch der heutige Besitzer voller Stolz darauf hinweist, dass sein Hof ganz
arrondiert sei, wobei hier sicher auch noch in späteren Jahren und
Jahrzehnten weitere Verbesserungen erzielt wurden.
Als Gebhard Schmid 1813 verstarb,
übernahm zunächst die Tochter seiner Frau aus erster Ehe den Hof. Da sie
aber in Neuravensburg verheiratet war, verkaufte sie ihn 1823 an Joseph
Martin aus Nonnenhorn. In dessen Besitz verblieb der Hof in den nächsten 130
Jahren. Während dieser Zeit nun haben sich wichtige, politische
Veränderungen vollzogen, die auch für unseren Schleinseer Hof nicht ohne
Folgen blieben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die feudale
Herrschaftsordnung zerschlagen worden. An die Stelle adliger Herrschaften
traten moderne Staaten. Schleinsee gehörte als Teil der Gemeinde Missenhardt
seit 1810 zu Württemberg. Die Höfe mussten von den Bauern nun nicht mehr als
Lehen bewirtschaftet werden, sondern gingen in ihr Eigentum über, die auf
den Höfen lastenden Abgaben entfielen. All dies natürlich nur gegen
Bezahlung entsprechender Ablö-
sungsgebühren an den Staat. Dieser Prozess zog sich einige Jahrzehnte hin,
aber spätesten seit etwa 1840 hatten praktisch alle Bauern die freie
Verfügungsgewalt über ihren Grund und boden erlangt. Auch Gemeinden in
unserem heutigen Sinne mit voller Autonomie sind erst zu Anfang des 19.
Jahrhunderts entstanden. Schleinsee gehörte noch bis 1829 zur früheren
Gemeinde Missenhardt, (seit 1824 in Tannau umbenannt). Teilort der Gemeinde
Hemigkofen wurde Schleinsee erst 1829. Mit all diesen Veränderungen waren
nun die Weichen für die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert gestellt.
1842 baute Joseph Martin für seinen Sohn
Georg einen 3. Hof in Schleinsee. Seine Tochter Catharina hatte 1846 Carl
Gührer aus Berg geheiratet. Nachdem seine Schwiegereltern verstorben waren,
hat Carl Gührer im Jahr 1854 den Heimathof seiner Ehefrau in Schleinsee
erworben und seinen eigenen Hof in Berg verkauft. Nicht nur den 80.
Geburtstag ihres Hauses, kann die Familie Gührer also 1984 feiern, sondern
auch die Tatsache, dass sich der Hof seit 130 Jahren im Besitz der Familie
befindet.
Nach dem frühen Tod von Carl Gührer 1863
wurde der Hof zunächst in Form einer Erbengemein-schaft weitergeführt. Der
älteste Sohn Anton übernahm in dieser Zeit die Rolle des Vaterersatzes und
wurde deshalb 1871 von der Militärpflicht befreit. 1876, im Jahr seiner
Eheschließung mit Walburga Feßler, wurde ihm die Führung des Hofes endgültig
übertragen, und sollte für den Gührerhof eine Zeit ungeahnten Aufschwungs
beginnen.
Anton Gührer erkannte die Zeichen der
Zeit und stand den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der
landwirtschaftlichen Produktionsweise offenbar aufgeschlossen gegenüber. Die
entsprechen-den Maßnahmen und Modernisierungen lassen sich an vielen
Einzelheiten belegen.
Schon 1870 hatte man die Erlaubnis zum Brennen von Schnaps erhalten. Der
Schnapshandel sollte im folgenden ein einträgliches Geschäft werden. Die
Viehzucht mit dem Schwer-gewicht auf der Fleisch- und Milchproduktion wurde
nun zum wichtigsten Betriebszweig. Der Einbau einer Käserei im Keller im
Jahr 1878 ist sprechender Beleg dafür. Außerdem war Anton Gührer
Gründungsmitglied des Braunviehzuchtverbandes Württemberg. Auch als
Viehhändler betätigte er sich und kam bei diesem Geschäft viel im Land
herum. So nimmt es nicht Wunder, dass Anton Gührer darüber hinaus in den
damals erfolgversprechenden Hopfenbau einstieg. 1886 musste eine Remise mit
Hopfen-trockenraum errichtet werden und weil Anton Gührer sah, dass der
Weinbau in Zukunft nicht mehr viel abwerfen würde, wandelte er nach und nach
die Rebgärten zu Hopfenflächen um. 1882 war Anton Gührer gar in der Lage,
den Schleinsee zu kaufen. Dieser hatte früher den Grafen von Montfort
gehört, war bis 1857 in staatlichem Besitz geblieben und dann privatisiert
worden.
Wohl wie nie zuvor haben sich in den70er
und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts Leben und Arbeiten auf dem Gührerhof
verändert. Dass man bei entsprechend harten Arbeitseinsatz und größter
Spar-samkeit damals durch Viehzucht und –handel, Hopfenbau und Schnapshandel
reich werden konnte, dokumentiert nicht zuletzt der prächtige Neubau des
Wohnhauses aus dem Jahr 1904.
Man lebte in einer Umbruchszeit, in der
sich jahrhundertealte, gewachsene Strukturen aufzulösen begannen, deren
Fesseln man vielleicht nur allzu gern über Bord werfen wollte. Man stand am
Beginn eines neuen Jahrhunderts und blickte optimistisch und
fortschritts-gläubig in eine Zukunft, von der man alles erhoffte. Als reich
gewordenen Ökonom bedurfte man anderer Traditionen und Identifikationsmuster
als der eigenen, die von nichts anderem als bescheidenstem Lebensstandard
und harter Arbeit zeugten. Wer sich die Mühe macht, sich etwas intensiver
mit dem Haus Gührer zu beschäftigen, wird einiges von der angesprochenen
Problematik in seiner Architektur wiederfinden.
Das alte Wohnhaus wurde für den Neubau völlig abgebrochen. Übrig geblieben
ist nur der gewölbte Keller mit der Datierung von 1720. Aber man hat das
neue Haus mit kaum ver-ändertem Grundriss genau an der Stelle, an der das
alte Haus gestanden hatte, wieder aufgebaut. Aus Sichtziegeln sollte das
Haus bestehen, jenem Material, das damals beim Bau von Bahnhöfen, dem
Ingegriff von Modernität und Fortschrittsoptimismus, so gerne verwendet
wurde. Das nächstliegende Beispiel hatte Anton Gührer ja seit 1899 im
Hemigkofen-Nonnenbacher Bahnhof vor Augen. Höchst modern war also das
Baumaterial.
Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Baustil. Sicher hat Anton Gührer
mit den historisieren-den Architekturformen städtischer Villen und
Bürgerhäuser auf seinen Handelsreisen Bekanntschaft gemacht. Sie mögen ihm
als der sinnfällige Ausdruck besonderen Reichtums erschienen sein. Als sich
Anton Gührer entschloss, sein neues Haus in dieser Weise zu gestalten,
bedeutete dies eine radikale Abkehr von den üblichen bäuerlich-länd-lichen
Bautraditionen. Orientiert hat er sich statt-dessen an Formen, die
ursprünglich feudaler Herrschaftsarchitektur entstammten und die sich im 19.
Jahrhundert das durch die Industrialisierung aufstrebende Bürger- und
Unternehmertum zu einer mehr als fragwürdigen Legitimation seiner neuen
Position zunutze machte.
Klassizistischer Manier entspricht die Betonung der Symmetrie in der
Fassadengestaltung. Die Vorderfront hat 5 Achsen. Der Eingangsbereich liegt
in der Mitte und erhält als kleiner Vorbau beson-deres Gewicht. Im Dach
setzt er sich in einem Zwerchgiebel mit hölzernen Schwebeelementen fort. Die
Eckquaderungen und ein umlaufendes Gesims zwischen Erd- und Obergeschoss
setzen weitere horizontale und vertikale Akzente. Durch die Ausführung in
Kunststein, der sich farblich und in seiner Struktur auffällig von den
Ziegelsteinen der Wände unterscheidet, werden die historisieren-den Details
besonders hervorgehoben.
Die Gewände der Fenster sind reich profiliert, im Obergeschoss weisen sie
sogar in der Renaissance übliche Dreiecksverdachungen auf. Der Vorbau vor
der nach hinten versetzen, prächtig geschnitzten Holztür wird von Pilastern
(Wandpfeilern) mit reichen Kapitellen umrahmt. Darüber legt sich ein Band,
das barocke Schluss- und Wappensteine imitiert und Aufschluss über Baujahr
und Erbauer gibt.
Blickfang aber ist das Mittelfenster im Obergeschoss, ebenfalls von Säulen
und Pilastern begrenzt mit in die Verdachung eingearbeiteter Rosette. Das
farbige und dreigeteilte Fenster nun ist dem Jugendstil zuzurechnen und
steht damit im Kontrast zu den übrigen, histori-sierenden Zierformen. Denn
der Jugendstil hatte sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts bemüht, durch den
Rückgriff auf die natur als Quelle der Gestaltung die Strenge und
Rückwärtsgewandtheit des Historismus zu überwin-den. In der Mitte ist der
Schleinsee dargestellt, wahrscheinlich als Erinnerung an den Kauf von 1882,
aber auch als Symbol des Zeitlosen, Bleibenden. Rechts und links davon ein
Weinstock und eine Hopfenstaude als Verweis auf die wichtigen
Betriebszweige. Während der Weinbau 1904 eigentlich schon der Vergangenheit
angehörte, richteten sich auf den Hopfenbau die optimistischen
Zukunfts-hoffnungen. Auch das Fenster also Ausdruck für die Umbruchsstimmung
der Erbauungszeit.
Eine Stuckdecke schmückt den hinter dem Fenster liegenden kleinen „Salon“.
Die heutigen Besitzer wissen übrigens noch zu erzählen, dass das Zimmer
rechts vom Eingang ursprünglich als Rädle-stube zum Ausschank des neuen
Weins eingerichtet werden sollte. Dazu ist es aber nie gekommen, da der
Weinbau schon kurz nach dem Neubau wegen Unrentabilität auf-gegeben wurde.
Trotz mancher Unstimmigkeiten: künstlerische Qualitäten besitzt das Haus am
Schleinsee zweifels-ohne. Man wird es sogar als eins der schönsten
„Bauernhäuser“, und nicht nur dieser, in der Gemeinde Kreßbronn und Umgebung
bezeichnen dürfen. Dieser Sachverhalt mag auch den etwas lang geratenen
Ausflug in die Stilgeschichte rechtfertigen. „Herrschaftlich“ ist das neue
Haus auf jeden Fall geworden. Und darauf kam es Anton Gührer wohl am meisten
an. „Ein bisschen größen-wahnsinnig“, wie es sogar der heutige Besitzer noch
empfindet. Als willkommene Abwechslung der ansonsten weiterhin anstrengenden
und harten Landarbeit hat man sich dann ab und zu einen herrschaftlichen
Lebensstil geleistet: mit Einladungen und großen Festessen. Das Wort
„Bauernhof“ mochte da nicht mehr so recht passen. Deshalb sprach man von nun
an lieber von „Hofgut“ und den „Gutsbesitzern“ am Schleinsee.
1906 ist der Hof vom Sohn Karl übernommen worden. Und auch er hat sich durch
den Neu-bau der großen Scheuer im Jahr 1911 ein bauliches Denkmal gesetzt.
Sie fügt sich mit der Sichtziegelbau-weise, den kunststeingefassten Fenstern
und Türen sowie den Krüppelwalm-dächern architekto-nisch gut in die Anlage
ein.
In den folgenden Jahrzehnten bis heute verlief die Geschichte des Hofguts
Gührer am Schleinsee wieder etwas ruhiger. Zu Vergrößerungen und
Erweiterungen ist es kaum mehr gekommen. Statt dessen musste den
Erfordernissen landwirtschaftlicher Betriebsführung entsprechend
moderni-siert, maschinisiert und automatisiert werden. Der Schwerpunkt der
Produktion wurde immer mehr auf die Viehzucht verlagert. Aber auch Hopfenbau
und Brennerei werden noch – allerdins in geringer-em Ausmaß – betrieben. Ein
weiterer recht einträglicher Betriebszweig ist mittlerweile der
Fremden-verkehr geworden. Ältere Kressbronner werden sich noch daran
erinnern: in den 60er Jahren florierte der Badebetrieb am Schleinsee. Er
wurde vor allen Dingen für den See selbst zur ungeheu-ren Belastung, doch
auch die Landwirtschaft litt darunter. Als See und Hof ein Segen. Seitdem
ist der Schleinsee an den Stuttgarter Anglerverein verpachtet. Dafür nutzt
man die herrliche Lage am See nun, um Ferien auf dem Bauernhof anzubieten.
So mancher Großstädter wird wohl nichts dagegen haben, wenn er bei seiner
Bekanntschaft mit der Landwirtschaft städtischen Komfort, zumindest was das
Wohnen betrifft, nicht missen muss.
Da der jetzige Besitzer, Karl Gührer, sich noch mehr der Milchviehhaltung
widmen will, wurde 1983 ein Ausbau des vorhandenen Stallgebäudes notwendig.
Hier hat sich der Besitzer in dankenswerter Weise um einen möglichst
behutsamen, architektonischen Eingriff bemüht, auch wenn er finanzielle
Mehrbelastungen zur Folge hatte. Damit hat er nicht nur einen wichtigen
Beitrag zur Erhaltung der vielgerühmten Idyllik des Schleinsees geleistet,
sondern ist auch dem architektonischen Erbe seiner Vorfahren gerecht
geworden.
So optimistisch, wie Anton Gührer im Jahr 1904, blicken wir heute nicht mehr
in die Zukunft. Das liegt sicher nicht nur daran, dass er am Anfang eines
Jahrhunderts stand und wir am Ende. Wir bekomm-en die negativen Folgen jenes
Fortschritts zu spüren, dem Anton Gührer huldigte. Gemeinsam ist uns
vielleicht, dass wir uns auf der Suche nach Vorbildern Orientierungshilfen,
Legitimationen in der Vergangenheit umschauen. Ob wir uns dabei immer für
das Richtige entscheiden? Wenn daraus nichts schlimmeres entsteht als gute
Architektur, so möchte das wohl zu verschmerzen sein.